Ein Gastbeitrag von Parviz Amoghli.

Das fernostasiatische Brettspiel GO ist das wahrscheinlich älteste Brettspiel der Menschheitsgeschichte. Die erste GO Partie nach den bis heute gültigen Regeln dürfte vor rund viertausend Jahren, zu Zeiten des legendären, hundertneunzehnjährigen Kaisers Yao (2353-2234 v.Chr.), dem vierten von fünf Urkaisern, stattgefunden haben. [1]

Außerdem zählt GO zu den am einfachsten zu erlernenden Brettspielen. Lediglich dreieinhalb, unspezifische Regeln rahmen das Geschehen auf dem Brett ein. Sie betreffen das Setzen der Steine (überall hin), das Schlagen/Fangen (durch Umzingelung) und den Selbstmord (verboten). Hinzu kommt noch eine kleine Sonderbestimmung, die zwar regelmäßig Anwendung findet, dennoch aber nur eine bestimmte Steine-Konstellation, das so genannte Ko, betrifft. Das war’s. Mehr Beschränkungen gibt es nicht.

Trotzdem oder gerade deshalb kann das Spiel den nächsten Superlativ für sich beanspruchen, nämlich den höchster Komplexität. Die Anzahl der Zug- und Kombinationsmöglichkeiten beim GO übersteigt die beim Schach um ein Mehrfaches, 10761 gegen 10120. [1] Das ist auch der Grund, warum zwischen dem Sieg von Deep Blue über den damaligen Schachweltmeister Garri Kasparow, 1997, und dem von AlphaGo über den zu seiner Zeit besten GO Spieler der Welt, den Südkoreaner Lee Sedol, 2016, beinahe zwei Jahrzehnte ins Land gingen.

Wem all das noch nicht ausreicht, sich mit dem denkbar simplen und doch höchst anspruchsvollen Methusalem unter den Brettspielen zu beschäftigen, der sei zudem noch auf die unauflösliche Verflechtung des GO-Spiels mit dem Taoismus und dem Buddhismus hingewiesen. Dadurch eröffnet sich dem Interessierten ein tiefer Blick in das Menschenbild und Weltverständnis des sinisch-konfuzianischen Kulturraums. Die intellektuell-kämpferische Auseinandersetzung damit, verleiht dem Spiel zu einer Zeit, in der die Bedeutung der Fernen Ostens in allen Gebieten und Bereichen wächst, kulturelle Aktualität.

Im Westen neigt man zu der Annahme, GO wäre mit Schach vergleichbar. Die ähnlich gestalteten Spielbretter sowie die schwarzen und weißen Spielsteine verleiten dazu. Doch das ist ein Irrtum. Schach und GO stellen so etwas wie die höchste Form spielerisch-strategischen Denkens in ihren jeweiligen Kulturräumen dar. In ihnen finden spezifische Mentalitäten, Prinzipien und Philosophien ihren Ausdruck. Dementsprechend fundamental unterscheiden sich die beiden Spiele.

Es beginnt mit dem Spielbrett. Während dem Schachbrett an sich keine tiefere Bedeutung zukommt als der eines beliebigen Schlachtfeldes, entspricht das Gitternetz des GO-Bretts der alt-chinesischen Vorstellung von der Erde als Quadrat über dem sich der Himmel als runde Scheibe wölbt. Die Kreuzungspunkte der Linien dienten ursprünglich als Koordinaten, mit deren Hilfe der Lauf der Sterne und andere astromische Ereignisse abgebildet und vorausgesagt werden konnten. Das GO-Brett ist also das Abbild einer alt-chinesischen Himmelskarte. [2]

Eine weitere kosmologische Verbindung ergibt sich aus der Summe der Schnittpunkte: 361. Zieht man den Kreuzungspunkt in der Mitte des Bretts ab – er ist der einzige der kein Gegenüber besitzt und gilt daher als Mittelpunkt des Himmels um den das Universum kreist – bleiben noch 360 Schnittpunkte übrig. „360 ist auch die Zahl der Tage eines Jahres“, schreibt ein Autor namens Zhang Ni im 11. Jahrhundert. „Das Brett hat genauso vier Ecken, wie ein Jahr vier Jahreszeiten hat. In jeder Ecke finden sich 90 Schnittpunkte, wie jede Jahreszeit aus 90 Tagen besteht.“ [3] Daraus ergibt sich ein weiterer gravierender Unterschied zum Schach. Beim GO-Spiel sind nicht die Felder von Bedeutung, sondern die Schnittpunkte. Sie werden „Freiheiten“ genannt und dienen als Ablageorte der schwarzen und weißen Spielsteine in Linsenform.

Ziel des Spiels ist es, so viel Gebiet wie möglich mit seinen Steinen einzukreisen und dadurch in Besitz zu nehmen. Am Ende einer Partie werden die unbesetzten Freiheiten gezählt, die die beiden Spieler jeweils sicher zu umzingeln vermochten. Derjenige, der am Schluss mehr Freiheiten sein eigen nennt, ist der Sieger.

In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist, dass ein Spiel sein Ende nicht durch eine Entscheidung, Stichwort: Schachmatt, findet. Da kein König existiert, der gejagt und zur Strecke gebracht gehört, und zudem kein spezieller Ort oder eine Fahne erobert werden will, kennt GO keine Entscheidung im westlichen Sinne. Stattdessen einigen sich die beiden Spieler darauf, eine Partie zu beenden, in der Regel dann, wenn keiner von beiden mehr die Möglichkeit zu einem sinnvollen Zug sieht.

Diese Art der Spielbeendigung verweist auf einen weiteren, für den schachgewohnten Westler gewöhnungsbedürftigen Umstand, nämlich die nachgeordnete Bedeutung eines Sieges. Das zeigt sich bereits in den Vorgabesteinen am Anfang einer Partie. Dabei gewährt ein stärkerer Spieler dem schwächeren bei der Eröffnung einen Vorsprung von bis zu neun Steinen. Dies geschieht im Sinne eines für beide Seiten schönen und gewinnbringenden Spiels, bei dem sich Kontrahenten ungeachtet ihrer Leistungsstufe auf Augenhöhe begegnen können. GO-Spieler sitzen sich nicht als Gegner gegenüber, sondern agieren als Partner. Es ist daher nicht ungewöhnlich, wenn die Spielpartner am Ende einer Partie, auf die Auszählung der Freiheiten verzichten, und lieber gleich ein neues Spiel beginnen.

Dahinter steht die „Dialektik des GO“. Ihr nach ist es zwar gut, zu gewinnen. „Gewinnen ist aber auch schlecht“, wie es der US-amerikanische Philosophieprofessor William S. Cobb formuliert. „Man lernt mehr, wenn man verliert, und zu gewinnen kann zu Häme und Arroganz verleiten. Vielleicht ist es also sowohl gut als auch schlecht, zu gewinnen, aber wenn es nicht uneingeschränkt gut ist, zu gewinnen, dann ist möglicherweise nicht das, worum es beim Spielen geht.“[4]

Doch worum geht es beim GO dann? Um das Spielen an sich, um die Eleganz der Züge und die Schönheit des niemals gleichen Mosaiks in Schwarz und Weiß, das sich zwischen den Spielern auffaltet. Letztere zu erkennen, bedarf ein wenig Übung, aber hat sich einmal ein Gespür für Augen, Tigermäuler, Kranichnester, Diamanten oder Vitalpunkte entwickelt, und sei es noch so rudimentär, eröffnet sich dem Betrachter eine ganz spezielle Ästhetik, die, wie bei jedem anderen Kunstwerk, tief im Innern der Erschaffer ihren Ursprung hat.

Damit es soweit kommt, braucht es erst einmal eine Eröffnung. Im Gegensatz zum Schach liegt das GO-Brett am Beginn einer Partie vollkommen leer und unberührt vor den Spielern. Oder anders gesagt, unter ihnen breitet sich ein leerer Himmel aus, bereit eine neue Welt zu empfangen. Das verleiht dem Setzen des ersten Spielsteins die Bedeutung eines Schöpfungsakts. Aus ihm entwickelt sich alles Folgende als quasi göttliches Ringen zweier Spieler um die Aufteilung ihrer selbst geschaffenen Welt. – Wie anders dagegen Schach. Beim Spiel der Könige füllt sich das Spielfeld nicht mit zunehmender Dauer, sondern es leert sich beim Versuch das gesamte Brett für sich zu erobern. Eine andere Stabilität als die der Alleinherrschaft kennt Schach nicht.

Gleichwohl bedeuten all die partnerschaftlichen und harmonischen Aspekte des GO-Spiels nicht, dass es auf dem Brett auch so zugeht. Das Gegenteil ist der Fall. Im Verlauf einer Partie wird unablässig angegriffen und verteidigt, es wird in einem fort geschnitten, umzingelt und gefangengenommen. Invasionen werden gestartet, Stellungen ausgebaut, Truppen herangebracht, Ablenkungsmanöver durchgeführt und Kämpfe auf Leben und Tod ausgefochten. Haudraufs und Landsknechte sind dabei freilich fehl am Platze. GO verlangt höchste Wachsamkeit und größtmögliche intellektuelle Flexibilität. Es braucht Pläne, doch gleichzeitig auch die Bereitschaft selbige wieder über den Haufen zu werfen. „Kein Plan überlebt die erste Feindberührung.“ Moltkes Diktum gilt erst recht fürs GO-Spiel.

Die ersten vier Steine, jeweils zwei schwarze und weiße, werden in der Regel in den vier Brettecken platziert. Dies deshalb, weil es hier am wenigsten Aufwand erfordert, Gebiet zu erobern. Inder Folge breitet sich das Geschehen entlang der Ränder und schließlich in Richtung Brettmitte aus. Von da an, mit dem Beginn des Mittelspiels, setzen beide Spieler alles daran, die zuvor lose gesetzten Steine miteinander zu verbinden, Einflusszonen und Gebietsanlagen zu errichten und gleichzeitig die Ausdehnung der gegnerischen Territorien nach Kräften zu reduzieren.

 

Von außen betrachtet, lässt sich die Dynamik einer GO Partie nicht gleich erkennen, es scheint sich eher um ein statisches Spiel zu handeln. Ist ein Stein einmal gesetzt, verbleibt er bis zum Schluss an seinem Ort, es sei denn, er wird so umzingelt, dass ihm keine freie Freiheit mehr verbleibt. Dann ist der Stein tot beziehungsweise gefangen und wird vom Brett genommen. Ansonsten aber ist ein Stein unverrückbar. Ungeachtet dessen vermag er trotzdem zu laufen, zu springen, zu schleichen und zu fliehen. Wie das sein kann, erschließt sich auch dem unkundigen Beobachter im weiteren Verlauf der Partie. Plötzlich beginnen sich die anfangs scheinbar willkürlich, wenn nicht gar chaotisch gesetzten Spielsteine wie in einem Puzzle zu fügen. So langsam ergibt alles einen Sinn. Nach und nach bilden sich wie von Geisterhand Formen und Gebilde, entstehen Mauern, Ketten, Augen und Territorien, nimmt die Aufteilung des Brettes Gestalt an, bis am Ende jenes, schon erwähnte, einzigartige Mosaik, aus schwarzen und weißen Linsen entstanden ist.

Das führt uns zu den Spielsteinen. Was als erstes auffällt, ist ihre völlige Gleichheit. Das betrifft sowohl ihre äußere Form wie auch ihre innere Wertigkeit. Während sich im Schach der westliche Individualismus in Gestalt von König, Adel/Offiziere und Bauern artikuliert und jede Figur über einen unterschiedlichen Wert verfügt, manifestiert sich in den GO-Linsen der Kollektivismus fernöstlicher Massengesellschaften. Es herrscht vollendete Egalität! Sieht man von den Farben Schwarz und Weiß ab, gibt es keine Unterschiede, keine Hierarchien, Dienstgrade oder Rangstufen innerhalb der Linsenheere.

Was nun das Schwarz und Weiß der Spielsteine anbetrifft, so sind die Farben natürlich ebenfalls kein Zufall. Vielmehr findet in ihnen das im Westen wohl bekannteste und am meisten missverstandene Prinzip fernöstlicher Philosophie, das Yin und Yang, seinen Ausdruck. Yin und Yang stehen nach Wikipedia „für polar einander entgegengesetzte und dennoch aufeinander bezogene Kräfte oder Prinzipien“. Nicht anders verhält es sich beim GO, wo dieses dualistische Prinzip Spiel geworden ist. Es ist ein ständiges Abwägen von Möglichkeiten, ein ständiges Hin und Her zwischen Angriff und Verteidigung, zwischen Überlassen und Sichern, zwischen Leben und Tod. Leidenschaften sind dabei nicht hilfreich und werden früher oder später bestraft. Daraus folgt, dass beim GO-Spiel nicht der Gegenüber der Gegner ist, sondern letztendlich das eigene Selbst. Nur wer Gefühle wie Gier, Hast oder Selbstzweifel überwindet und sich in Geduld, Großzügigkeit und Furchtlosigkeit übt, wird erfolgreich sein.

Eng damit verwandt, ist ein weiteres zentrales Konzept der buddhistischen Philosophie, das im GO-Spiel Anwendung findet. Gemeint ist die Metapher von der Leere. Im buddhistischen Sinne bedeutet Leere, die „Abwesenheit einer bestimmten Daseinsweise. Die Behauptung ist die, dass Dinge nicht auf beständige, unabhängige, autonome und unveränderliche Weise existieren…. Für Buddhisten ist alles vorübergehend, hängt von anderen Dingen ab und verändert sich.“ [5]

Was das fürs GO-Spiel heißt, verdeutlicht der Bedeutungs-, man könnte gar sagen: der Gestaltwandel, den jeder einzelne Stein im Verlauf einer Partie durchläuft. Zwar sind zu Beginn und solange ein Stein nicht gesetzt wird, tatsächlich alle Steine gleich und frei, überall hingesetzt zu werden. Jedoch endet Gleichheit und Freiheit in dem Moment, in dem ein Stein aufs Brett gelangt. Dort wird jeder Linse je nach Entwicklung der Gesamtlage eine andere Bedeutung und Aufgabe zuteil. Es gibt wertvollere Steine, Steine, die – vorübergehend – keine Beachtung brauchen, und solche, die als Opfer dienen oder hoffnungslos verloren scheinen und deshalb abgeschrieben werden. Allerdings können sich solche Einschätzungen innerhalb weniger Züge von Grund auf ändern. Wichtig ist nur, was dem schwarzen oder weißen Gemeinwohl dient. Und wenn das bedeutet, zugunsten eines Zuges, der mittelfristig zehn Punkte/Freiheiten einbringt, kurzfristig auf die Sicherung einer Steingruppe, die nur fünf Punkte/Freiheiten wert ist, zu verzichten, dann wird letztere ihrem Schicksal überlassen.

Dieses Beispiel zeigt, GO besitzt neben der kriegerischen, eine mindestens genauso wichtige wirtschaftliche Facette. Von dieser Warte aus, erscheint die Aufteilung des Himmels als eine des Marktes. Und bei den Auseinandersetzungen auf dem Brett, die man gemeinhin als Kämpfe bezeichnet, handelt es sich in letzter Konsequenz um Geschäfte, oder besser in die heutige Zeit passend: um Deals. Die Tugenden, die einen erfolgreichen GO-Spieler ausmachen – Geduld, Großzügigkeit und Furchtlosigkeit – passen, so gesehen, auch besser zu einem Geschäftsmann als zu einem Feldherrn. Dafür spricht zudem, dass GO nicht die Vernichtung des Gegenübers vorsieht, sondern Koexistenz. Ein besonders prägnantes Beispiel hierzu sind die so genannten Joseki. Wörtlich übersetzt bedeutet der Ausdruck: „etablierte Steine“ und bezeichnet eine Standardabfolge von Zügen, die vor allem bei der Eröffnung zum Einsatz kommen. Josekis sind das Ergebnis jahrhundertlangen Nachdenkens über Zugfolgen, die für ein beidseits befriedigendes Ergebnis am Ende einer Zugsequenz sorgen sollen. Gewinnt Schwarz beispielweise am Ende eines Joseki ein kleines Gebiet in der Ecke, erhält Weiß im Gegenzug als gleichwertigen Ersatz Einfluss in Richtung Brettmitte. Es gibt Abertausende dieser Zugfolgen, so dass es aussichtslos ist, sich diese alle einprägen zu wollen. Josekis sind als Vorschläge an beide Spieler zu verstehen, ihnen wohnt keinerlei Verpflichtung inne. Jedoch ist jeder GO-Spieler gut beraten, sich ab einer bestimmten Spielstärke damit vertraut zu machen. Zumindest mit einigen von ihnen. Sie berühren den Wesenskern des Spiels.

Aber ganz gleich, wie man das GO-Spiel nun zu schubladisieren versucht, ob als Kriegs- oder Wirtschaftsspiel, es ist müßig. Dafür ist GO einerseits zu komplex, andererseits trägt eine Kategorisierung nichts zum Verständnis des Spiels und seiner Bedeutung bei: der Aufteilung des Himmels.

 

[1] „Go –die Mitte des Himmels“, Michael H. Koulen, Hebsacker Verlag, 2006

[2] Es gibt darüber hinaus noch die Brett-Varianten neun Mal neun und dreizehn Mal dreizehn.

[3] „Der Klassiker des GO in dreizehn Kapiteln“, Zhnag Ni, Verlag Boedicker, 2014

[4] „Das leere Brett – Betrachtungen über das GO-Spiel“, William S. Cobb, Brett und Stein Verlag, 2012

[5] „Das leere Brett – Betrachtungen über das GO-Spiel“, William S. Cobb, Brett und Stein Verlag, 2012