GoWL Exclusiv

Aus den Giftschränken
der Go-Gruppe Osnabrück

von Michael Stolte

Die nachfolgend vorgestellte Partie liegt schon seit längerer Zeit in Form von einer Aufzeichnung auf Halde, doch ich habe mich jetzt erst entschlossen, einen Beitrag darüber mit Kommentar für Interessierte fertig zu stellen. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie ohne Begrenzung der Bedenkzeit während einer Zeit von mehreren Monaten ausgetragen wurde; es konnten einige Tage zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zügen verstreichen, und so blieb genügend Zeit, um eine Stellung zum wiederholten Mal betrachten zu können, wenn Probleme auftraten. (Für den jeweils Wartenden auf der anderen Seite konnte dies auch bedeuten, daß er mehrere Tage Zeit hatte, seinen vorherigen Zug zu bereuen ... ) Die Übermittlung der Züge erfolgte mündlich oder fernmündlich. Von Zeit zu Zeit führten wir eine Gegenüberstellung unserer Aufzeichnungen durch, um sicherzustellen, daß sich keine Fehler eingeschlichen hatten. Es waren 5 Komi vereinbart. Möglicherweise bedarf die Anzahl der Komi einer Erhöhung bei längerer Bedenkzeit. Die Partie sollte spätestens dann zu Ende sein, wenn eine Partei nach vier Wochen ohne Begründung noch keinen Zug abgegeben hatte.
Außerdem hatten wir vorher vereinbart, daß die Benutzung aller gewünschten Hilfsmittel erlaubt sein sollte, mit Ausnahme der Befragung eines stärkeren Spielers. Diese Erweiterung der Regeln hatte aber nur geringe Auswirkungen auf den Spielverlauf. Ich habe nur zu Beginn ein oder zwei Mal im Joseki-Lexikon nachgeschlagen. Danach verloren sich die Spuren schnell im Meer der Unwissenheit.
Die längere Bedenkzeit hatte nicht unbedingt zur Folge, daß die Züge besser waren als in einem normalen Spiel, aber bestimmte Arten von Fehlern, etwa durch Flüchtigkeit oder Vergeßlichkeit, kamen wohl nicht so häufig vor. Nach Angaben von Jan Schröer dürfte die Eröffnung gewisse Ingredienzen der grotesken Art enthalten, als da wären missing points, overplays und zu langsame, zu lasche und zu vorsichtige Züge; letzteres könnte auch damit zusammenhängen, daß ein Gospieler nicht gerne in ein absehbares Life-and-Death-Problem auf der Verliererseite verwickelt wird, besonders, wenn er wegen der langen Bedenkzeit nicht damit rechnen kann, einen Verlust gegebenenfalls am Ende noch in einen Gewinn ummünzen zu können.
Zum Effekt, den die Verlängerung der Bedenkzeit hatte, ist folgendes anzumerken: Die Bedeutungen einzelner Züge konnten präziser und mit größerem Nachdruck in Erscheinung treten; wenn schneller gespielt wird, kann es leichter passieren, daß die Parteien bei einer späteren Bewertung eintach übersehen, welche Intentionen sie mit den zuvor abgebenen Zügen verfolgten und laufend inkonsistente Fortsetzungen finden. Da ich mich zur damaligen Zeit viel mit den verschiedenen Aspekten der jeweils aktuellen Stellung beschäftigte, rückten auch deren Merkmale und Bedeutungen im größeren Zusammenhang stärker in mein Bewußtsein und nahmen weiterreichende Gestalt an. Beispielsweise lastete die robuste schwarze Gruppe unten links dauernd auf mir als eine ominöse Drohung, vergleichbar mit einem Damoklesschwert. Auch der Zug 69 war für mich als Weiß Spielenden von höllischem Gepräge; der Kampf um die Verbindung zwischen den beiden weißen Gruppen auf der rechten Seite drückte meine Stimmung bis auf den Grund von Schacht "Konrad" (in einem Spezialfaß). Ich fühlte mich an "The Master of Go" von Kawabata erinnert, wo geschildert wird, basierend auf tatsächlichen Geschehnissen, wie der Sensei eine wichtige Partie mit ähnlich langer Bedenkzeit verliert und anschließend vom Tode ereilt wird. Weil ich diesem Schicksal entgehen wollte, gab ich mir Mühe, möglichst bibelfest zu sein, was die Go-Weisheiten über Angriff und Verteidigung betrifft.
Erstaunlicherweise habe ich sehr viel Bedenkzeit damit vergeudet, Angriffsmöglichkeiten auf die schwarze Gruppe oben in der Mitte zu studieren, was ich heute nicht mehr verstehen kann. Außerdem ist nichts hiervon auf dem Brett zu sehen. Zug 98 kostete mich sehr viel Bedenkzeit; ich könnte diesen Zug mit dem Start eines Versuchsballons vergleichen. Anschließend hatte ich Gelegenheit, einen Rundblick über meine Gruppen schweifen zu lassen. Ab Zug 148 schließlich begann ich, das Spiel harmonisch einzurichten und blieb auch vorsichtig, als noch einmal ein kalter Hauch durch das schwarze Haus wehte.

Fernpartie: Reinhard Suck 1D - Michael Stolte 1D

Quelle: Info für OWL Nr. 36, 37, 38 (1991)